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Nach innen geht der geheimnisvolle Weg

„Wir träumen von Reisen durch das Weltall – ist denn das Weltall nicht in uns?

"Wir träumen von Reisen
durch das Weltall –
ist denn das Weltall nicht in uns?
Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht –
Nach innen geht
der geheimnisvolle Weg.
In uns, oder nirgends
ist die Ewigkeit mit ihren Welten –
die Vergangenheit und Zukunft.“
(1)

Friedrich von Hardenberg (1772–1801), der unter dem Namen Novalis publizierte, war einer der originellsten Köpfe der deutschen Romantik. Diese geistig-soziale Strömung ging am Ende des 18. Jahrhunderts vom Kreis der so genannten Jenaer Frühromantiker aus, dem Novalis angehörte, und ist weltweit bis heute kulturell einflussreich. Bis heute gilt die viel zitierte "Blaue Blume“ als ihr Symbol. Weniger bekannt ist, dass diese Blume der alchimistischen Bilderwelt entlehnt und ihr Schöpfer Novalis in Leben und Werk von hermetischer Weisheit (2) inspiriert wurde.

Wohin wollte dieser rätselhafte junge Mann, der als Jurist, Verwaltungsfachmann, Naturwissenschaftler und Bergbauingenieur einerseits ganz erfolgreich eine Laufbahn im Staatsdienst einschlug, während er andererseits eine Revolution der Köpfe und Herzen vorantrieb? Eine Umwälzung mit dem Ziel, Mensch und Welt bis in ihre Wurzeln zu "poetisieren“ – ein frischer Abglanz der Utopie des Goldenen Zeitalters.

„Wo gehen wir denn hin? – Immer nach Hause.“ (3)

Der Novalis-Forscher Heinz Ritter sagt: "Wenn von Einem, so kann man von Novalis sagen, dass ein Geist aus anderer Ordnung sich für kurze Zeit auf der Erde verkörperte, mit heißer Lust alles Begegnende begrüßte, Glanz und Wunder um sich verbreitete, aber die Sehnsucht nach der ewigen Heimat nur mühsam unterdrücken konnte.

Novalis war der eigentliche Romantiker; er war es nicht im Sinne schwärmerischen, verschwommenen Gefühls. Wie er ein verwegener Reiter und kühner Fechter war, so war er auch geistig ein scharfer Streiter. (...) Er lebte in der Welt der Urbilder. Er ist ein Urbild noch für unsere Zeit und für die Zukunft. Sein Stern wird erst aufgehen.“ (4)

Novalis’ Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“

Zu Novalis’ wichtigsten Werken zählt der unvollendete Roman "Heinrich von Ofterdingen“. Er erzählt uns darin, wie der junge Heinrich von Ofterdingen eine große Reise unternimmt und zum Dichter heranreift. Die Handlung spielt in der – poetisch verfremdeten – Kreuzzugsepoche des Mittelalters. Ihren Ausgangspunkt bildet Heinrichs Ergriffensein von der Erzählung eines fremden Reisenden, in der von einer wunderbaren blauen Blume die Rede ist. Ihr begegnet Heinrich in einem Traum, der ihm inmitten des Blütenkelches "ein zartes Gesicht“ zeigt.

Heinrichs unzähmbarer Unruhe kommt es gelegen, dass er mit seiner Mutter und einigen Kaufleuten zum Großvater in die glanzvolle Reichsstadt Augsburg reisen darf. Unterwegs hört der unerfahrene Jüngling durch die Erzählungen seiner Mitreisenden vom Handel und Wandel der Welt. Ein Aufenthalt auf einer Burg verschafft ihm Einblicke in Rittertum und Kreuzzüge. Er trifft dort auf eine edle Frau aus dem Orient, die ihm sehnsuchtsvoll vom Zauber ihrer fernen Heimat berichtet. Im Verlauf der Reise tragen auch ein alter Bergmann und ein geheimnisvoller Einsiedler dazu bei, Heinrichs poetisches Vermögen auszubilden.

In Augsburg schließlich lernt er außer dem wohlhabenden Großvater den geehrten Dichter Klingsohr und dessen Tochter Mathilde kennen. Er erkennt: Es war ihr Gesicht, das sein Traum ihm inmitten des Blütenkelches der blauen Blume gezeigt hat. Der junge Dichter und das Mädchen verlieben sich ineinander. Heinrichs Glück wird jedoch durch einen neuen Traum bedroht, der ihm den baldigen Tod der Geliebten ankündigt. Mit Klingsohrs Märchen von Eros, Fabel und dem neuen Goldenen Zeitalter endet der erste Teil des Romans.

Übergang in eine andere, göttliche Welt

Die weiteren Teile sind nur als Bruchstücke und Entwürfe überliefert. Heinrich ergreift nach Mathildes Tod den Pilgerstab, verlässt Augsburg und wandert zu einem Eremiten, der ihm die Sprache der Natur erklärt und die Ankündigung des Goldenen Zeitalters wiederholt. Novalis‘ Notizen zur Roman-Fortsetzung deuten dieses als "Poetifizierung“ des Menschengeschlechts an und sprechen von Heinrichs künftigem Übergang in eine andere, göttliche Welt. Er und Mathilde werden als Verwandelte in heiliger Hochzeit wieder vereint werden.

Novalis‘ Roman-Held Heinrich von Ofterdingen geht den hermetischen Weg des Suchers: Anfangs nur getrieben durch die dunkle Ahnung von der Existenz einer übersinnlich-göttlichen Welt, durchschreitet er die Erfahrungen in der Natur und der Liebe, um schließlich verwandelt zum Bewusstsein dauernder, unmittelbarer Einheit mit dem Göttlichen zu gelangen. Dadurch verfügt Heinrich, der Dichter, potenziell über göttliche Schöpferkraft, das "Schöpferische Wort“. Genau hieraus ergibt sich für Novalis die ureigene, besondere Berufung der romantischen Künstler.

Etappenziel: das schöpferische Wort

Wichtige Impulse dafür hat Novalis aus dem Werk des Görlitzer Theosophen Jacob Böhme (1575-1624) bezogen, was sich besonders im "Heinrich von Ofterdingen“ auswirkt. Über Böhmes Vorstellung von der Schöpfung als Sprachhandlung schreibt Ferdinand van Ingen: "In Böhmes Denkwelt nimmt das Schöpfungswort FIAT eine zentrale Stelle ein. (...) Böhmes revolutionäre Idee sah vor, dass der vom Geist beseelte Mensch unter Anleitung des Geistes prinzipiell imstande wäre, Gott nachzusprechen und mit gleicher, kreativer Wort-Kraft Lebloses zu beseelen.“ (5)

Aber nicht allein Jacob Böhmes Werk – im Hintergrund von Novalis‘ Gedankenwelt wirken weitere Werke bedeutender Mystiker und Gnostiker, so zum Beispiel Johann Valentin Andreaes Erzählung "Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz“ (Alchimische Hochzeit) von 1616. Durch die neuere Novalis-Forschung (6) wurde inzwischen auf die vielen Berührungspunkte zwischen der Alchimischen Hochzeit und dem "Heinrich von Ofterdingen“ hingewiesen. (7) Novalis hatte die Alchimische Hochzeit 1798 gelesen und sich intensiv mit dem siebenstufigen Aufbau der Erzählung beschäftigt, der den sieben Stufen der alchimistischen Operation entspricht.

Im eigenen Mikrokosmos reisen

Der Satz "Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“ aus den eingangs zitierten Versen kann geradezu "ein Glaubensbekenntnis des Novalis, die Mitteilung seiner ersten entscheidenden Entdeckung“ (8) genannt werden. Die Reise nach innen führt in den menschlichen Mikrokosmos – also in jene komplette "kleine Welt“, die jeder von uns in sich trägt und die eine komplexe Widerspiegelung des Universums, des göttlich bewirkten Makrokosmos ist.

Quelle dieser Weisheitslehre ist die berühmte "Tabula Smaragdina“ des legendären Hermes Trismegistos, in der es heißt: "Dies, so unten, ist gleich dem Oberen, und dies, so oben, ist gleich dem Unteren, damit man kann erlangen und verrichten Wunderdinge“. Oft wird diese Lehre in der vereinfachten Fassung "Wie unten, so oben, und wie oben, so unten“ zitiert.

Der Arzt Paracelsus (ca. 1493 - 1541) wandte sie auf das Bild des Menschen an und formulierte: "So folgt aus dem Menschen sein Adelsname Mikrokosmos, das heißt soviel: alle himmlischen Bahnen, irdische Natur, Eigenschaften des Wassers und Wesen der Luft sind in ihm; in ihm ist die Natur aller Früchte der Erde und Erze (...) Diese großen, wunderbaren Dinge stehen alle im Menschen“ (9) Auf der Entsprechung von Makro- und Mikrokosmos baute Paracelsus sein innovatives medizinisches System auf, indem er zu jedem Vorgang im Menschen den ihm entsprechenden in der Natur suchte.

Die Idee vom Menschen als Mikrokosmos

Novalis bekräftigt diese Lehre: "Die Idee vom Microcosmus ist die höchste für den Menschen.“ (10) Die Lehre von Mikrokosmos und Makrokosmos ist für ihn die "selbstverständliche Grundlage seines Denkens. Das Menschenbild, von dem er ausgeht, wie sein wissenschaftlicher Ansatz bauen darauf auf.“ (11) Weil der Makro- mit dem Mikrokosmos, das Obere mit dem Unteren, das Innen mit dem Außen in engen Beziehungen steht, ist der Mensch befähigt, die Welt zu erkennen, denn etwas kann nur durch ihm Gleiches erkannt werden. "Das Auge sieht nichts wie Auge – das Denkorgan nichts wie Denkorgane, oder das dazugehörige Element“ (12), hat Novalis diese Einsicht in paradoxer Zuspitzung formuliert.

Damit sind wir in der Lage, die eingangs zitierten Verse besser zu verstehen: "Das Weltall ist in uns“ heißt, es steht in Wechselwirkung zum menschlichen Mikrokosmos; Vergangenheit und Zukunft, sogar die Ewigkeit des Göttlichen können wir uns auf dem geheimnisvollen Weg in unser Inneres erschließen. Denn – so der Christuszeuge Novalis – "Gotteskinder, göttliche Keime sind wir. Einst werden wir sein, was unser Vater ist.“ (13)

Novalis’ Fähigkeit, das Kleinste und Größte, Zeit und Ewigkeit, Mensch und Gott in eins und ungetrennt zu sehen, veranlasste den Schriftsteller Hermann Hesse 1916 zu folgenden Feststellungen über ihn: "Dieser wunderbar reiche, elastische, kühne Geist, dieser wahre Seher und Seelenleser, hat zu seiner Zeit (...) das Ideal einer Synthese von wissenschaftlichem Denken und seelischem Erleben so wuchtig durchgeformt und ausgebildet wie sonst nur noch Goethe. In ihm hören wir die Stimme jenes sagenhaft gewordenen Deutschland des Geistes und der Andacht, das heute von vielen geleugnet wird“.
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Quellen

(1) Novalis. Werke in zwei Bänden, Bd. 2, Könemann, Köln 1996, S. 103
(2) hermetisch: d.h. den Lehren des Hermes Trismegistos folgend
(3) Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Ein Roman. Reclam UB, Stuttgart 1987, S. 164
(4) Ritter, H.: Der unbekannte Novalis, Göttingen 1967, S. 295F
(5) Ingen, F. van, in: Erkenntnis und Wissenschaft — Jacob Böhme (1575-1624) Hrsg. Oberlausitzische Gesellschaft d. Wissensch., Görlitz 2001, S. 120
(6) Gaier, U.: Krumme Regel – Novalis‘ „Konstruktionslehre des schaffenden Geistes“, Tübingen 1970, S. 128, 135
(7) Edighoffer, R.: Die Rosenkreuzer, München 1995, S. 117
(8) Ritter, a.a.O., S. 78
(9) Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus) zitiert nach Roder, F.: Novalis. Die Verwandlung des Menschen, Stuttgart 2000, S. 389
(10) Novalis: Werke Bd. 2, a.a.O., S. 318
(11) Roder: a.a.O., S. 391
(12) zitiert nach Roder: a.a.O., S. 390
(13) zitiert nach Wehr,.G.: Novalis. Der Dichter und Denker als Christuszeuge, Schaffhausen 1976, S. 124